Älterwerden wird im Digitalzeitalter neu definiert
13.06.2018
Wir werden nicht nur älter, sondern altern auch anders. Älterwerden heißt heute, aus traditionellen Altersrollen auszubrechen.
Daniela Krautsack
Nahezu alle Wirtschaftsinstitute Europas warnen vor den Folgen des demografischen Wandels für die ökonomische Entwicklung. Weil es mehr Pensionisten und weniger Erwerbstätige geben werde, habe dies dramatische Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, das Einkommen und den Wohlstand der Bevölkerung. Deshalb fordern die Wirtschaftsexperten das Pensionseintrittsalter schrittweise anzuheben. Zeitgleich müssten die Unternehmen reagieren und räumlich und zeitlich flexible Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten.
Wir werden nicht nur älter, sondern altern auch anders. Älterwerden heißt heute, aus traditionellen Altersrollen auszubrechen. Leute mit 65, die zehn Jahre jünger aussehen, lassen sich ungern als „Senioren“ bezeichnen. Sie wollen auch weiterhin in ihrer Nachbarschaft, ihrem Freundeskreis und der Gesellschaft sozial inkludiert sein; anstatt sich in die wohlverdiente Pension zu begeben, nehmen ältere Menschen zunehmend in Form von Ehrenämtern, Erwerbstätigkeiten oder etwa einem Universitätsstudium weiterhin am Gesellschaftsleben teil.
Der Megatrend Silver Society kommt auch hierzulande langsam an. Er hat großes Potenzial, denn er verändert die Systeme und Infrastrukturen nachhaltig. Alter wird nicht als Stigma, sondern als Chance verstanden. Da ist plötzlich Zeit, ein Buch zu schreiben, eine Fremdsprache zu erlernen oder sich den Traum einer Weltreise zu erfüllen.
Immer mehr Pensionisten suchen sinnstiftende Tätigkeiten und üben diese meist in Form eines Ehrenamtes aus – also unentgeltlich. Erfreulicherweise steigt die Anzahl von ‚Jungunternehmen’, die von älteren Personen gegründet oder mit solchen aufgebaut werden und die einer sozialen Mission folgen.
Die Museumsausstellung Dialog mit der Zeit in Hamburg beleuchtet die positiven Seiten des Älterwerdens und macht die Lebensphase ab der Pension aktiv erlebbar, begleitet durch Guides, die mindestens 70 Jahre alt sind. Durch die Ausstellung wird die Erfahrung von älteren Menschen als Vermögen spürbar, ein Bewusstsein für die Zukunft des Alterns erzeugt und die Wichtigkeit des Dialogs zwischen den Generationen unterstrichen. „Jeder alternde Mensch ist heute für sich selber verantwortlich“, sagt die 74jährige Doris, „und wie er sein Leben gestaltet. Die immer komplizierter werdende Digitaltechnik kann bei uns Senioren richtig argen Stress auslösen. Ob beim digitalen Einkaufen im Internet oder beim Banktransfer, wir wollen lernen und nicht von jüngeren Familienangehörigen abhängig sein.“ Beim Dialog mit der Zeit erlaubt man den Besuchern in die Zukunft einzutauchen – in ihre eigene Zukunft, unterstützt durch Technologie und den Geschichten älterer lebensweiser Menschen.
‚Vitale Gemeinde’ nennt sich das Modell, das mit Hilfe eines BürgerInnen-Partizipationsprozesses das Potential und Talent von Dorf- und Stadtbewohnern sichtbar macht. In den ersten Prozessphasen werden die Wünsche, Bedürfnisse und Fragen rund um die Vitalität der Teilnehmer abgefragt. Nach Analyse werden Arbeitsgruppenleiter zu interkommunalen Projektleitern ausgebildet, die Menschen aus der Gemeinschaft zur Teilnahme an sozialen Projekten, wie Nachbarschaftshilfe oder Wegbegleiter-Dienste zu motivieren, aber auch beim Kennenlernen digitaler Technik zur Hand zu gehen.
Die Akademiegründerin, Rosa Maria Eglseer, hat während mehrjähriger Erfahrung im Pflegedienst die Sorgen und Ängste von alten Menschen und ihren Familien erlebt. „Meine Arbeit zeigt der Altersgruppe 50+, die vor oder in der Pensionierung steht Chancen für ein völlig anderes Altwerden auf. Wir haben das Interesse für ‚vitales Altern’ in über 150 Gemeinden in Österreich erforscht und in ein Modell gegossen. Die für mich wichtigste Erkenntnis war, dass BürgerInnen, die erfahren, dass ihren Wünschen und Bedürfnissen Gehör verschafft wird, aktiver werden, und Einsamkeit und soziale Isolation sinken. Digitale Lösungen für diese Zielgruppe zu entwickeln gehört heute selbstverständlich dazu.“
Aber, es muss noch viel getan werden. Noch stehen Politik und Wirtschaft ratlos vor der kommenden demografischen ‚Revolution’. Vor allem die Wirtschaft, für die jahrzehntelang der fesche und vife Youngster Sexsymbol und Leitmotiv war, hält trotzig an der Kernzielgruppe 14-49 fest, auch wenn diese Altersgruppe bald in der Minderheit ist. Es bedarf einer neuen Erzählung, die den Älteren mehr zubilligt als Seniorenreisen und das treue Abnehmen von Haftcreme für die dritten Zähne.
Die Stärken des Alters sind Erfahrung, Gelassenheit und Wertebewusstsein, und diese gewinnen ökonomisch prägende Kraft. Die aufstrebenden Geschäftsfelder rund um die Sinnhaftigkeit von Produkten und Dienstleistungen sind Vorboten davon. Die Gesellschaft formt die Märkte, und sie wird ein immer lauteres Ja zum Altern einfordern. Die Filmindustrie zeichnet das neue Bild der Silver Society seit geraumer Zeit mit.
Noch ist in unserer Gesellschaft, in der “Alte” oder “Alter” als Schimpfwort gilt, das Verhältnis zum Altern gestört. Noch hat das Potential, die Chancen für die Gestaltung neuer Lebenswelten für unsere ältere Gesellschaft zu fördern, Luft nach oben.
Vor einigen Wochen kam ein Produkt auf den Markt, das als Herzstück aus einer Großmutter-freundlichen App besteht. Die App befindet sich auf einem Tablet, das wiederum in einem Case liegt, auf das der Vorname der Oma gestickt wird und noch dazu ein gedrucktes Büchlein hält, das Omas schönste Erinnerungen und wichtigste Daten beinhaltet. Ich weiß das so genau, weil ich die Entwickler kenne. Nämlich mich.
Jahrelang war ich frustriert, dass ich mich mit meiner Oma nicht mehr regelmäßig austauschen konnte. Ich bin viel gereist, meine Oma hatte kein Smartphone und noch dazu war sie durch Schlaganfälle körperlich beeinträchtigt, sodass es schwierig war, ein ‚feel-good‘ Gespräch mit ihr zu führen, wenn man sie durchs Telefon anbrüllen musste.
Also habe ich viel recherchiert, geplant, getestet, Geld aufgestellt und schließlich ein Produkt entwickelt, das die unterschiedlichen Generationen in Familien wieder zusammenbringen soll. Die Digitalisierung hat viele ‚connected‘ und viele andere isoliert. Die junge Generation spricht – und das ist natürlich überzeichnet – fast ausschließlich übers Smartphone mit Mama, Papa und den anderen technologisch Aufgeschlossenen in der Familie.
Aber Oma und Opa, die irgendwo in der Pampa oder im Altenheim sitzen und nicht auf Whatsapp, Instagram, Snapchat, Facebook und Twitter sind, die fallen in das sogenannte ‚Generationenloch‘. Da fehlt eine kommunikative Brücke, damit die jüngeren und älteren Mitglieder der Familie wieder ein gemeinsames Medium zum Reden haben.
‚Kama‘ bietet genau das. ist aber mehr als ein Produkt. Es ist eine Vision, wie es gelingen soll, die junge mit der alten Generation so zu verbinden, damit emotionale Werte, Freude, Inklusion und Familiensinn entstehen.
Aufruf eines Rentners
Wir brauchen die Digitalisierung, um einander wieder näher zu kommen. Und so werden Schlagzeilen, wie: „Sozial macht einsam: Facebook & Co fördern Isolation“ und „Soziale Medien machen ihre Nutzer einsam“, durch Spontan-Initiativen, wie die einer Facebook-Nutzerin widerlegt.
‚Kama‘ bietet genau das. ist aber mehr als ein Produkt. Es ist eine Vision, wie es gelingen soll, die junge mit der alten Generation so zu verbinden, damit emotionale Werte, Freude, Inklusion und Familiensinn entstehen.
Wir brauchen die Digitalisierung, um einander wieder näher zu kommen. Und so werden Schlagzeilen, wie: „Sozial macht einsam: Facebook & Co fördern Isolation“ und „Soziale Medien machen ihre Nutzer einsam“, durch Spontan-Initiativen, wie die einer Facebook-Nutzerin widerlegt.
Ich erinnere mich an den Aushang am Schwarzen Brett eines deutschen Supermarktes, auf dem ein älterer Herr schrieb: „Wo findet einsamer Rentner, Witwer, im kleinen Kreis zu Weihnachten einen Platz zum Mitfeiern?“. Ergriffen vom Engagement des einsamen Herren teilte sie ein Foto des Aushangs auf ihrer Facebook Seite, die daraufhin über 4.000x geliked und geteilt wurde. Es folgten Medienberichte und unzählige Einladungen. Hier hat Facebook & Co also nicht einsam gemacht – ganz im Gegenteil. Es ist zu erwarten, dass sich durch diese Aktion viele neue Freundschaften im Leben des Rentners ermöglichen.
Einsamkeit kann – bei Einhaltung der richtigen Voraussetzungen – durch Digitalisierung sehr wohl bekämpft werden. Es gilt nachzufragen und gut zuzuhören, was ältere Menschen brauchen. Es braucht Motivationsfaktoren, um sie mit dem Thema Digitalisierung vertraut zu machen. Und es braucht das Vertrauen der Familie, dass Digitalisierung keine physischen Besuche ersetzt, sondern sie durch den regelmäßigen digitalen Kontakt und das gegenseitige Kennenlernen wertvoller macht.
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Daniela Krautsack ist Mediastrategin, Stadt- und Zukunftsforscherin und Start-up Unternehmerin. Nach einer MBA-Ausbildung und einem post-graduate Accelerator Programm (THNK Amsterdam School of Creative Leadership) ändert sie ihren beruflichen Fokus nach zwei Jahrzehnten in der Werbebranche in Richtung Stadtentwicklung, Partizipationsdesign und Generationen-übergreifende Produktentwicklung. Als Expertin mit Fokus auf Branding im öffentlichen Raum, Ambient Media und Zukunftsstadt-Design blickt sie auf eine internationale Karriere in Wien, London, Zürich, Mexico City, zwei Jahrzehnte als Vortragende in akademischen Einrichtungen, bei Konferenzen und Festivals sowie zahlreiche Weltreisen zurück. Ihre Leidenschaft liegt im Vernetzen mit ExpertInnen aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft, um zeitaktuelle Probleme und zukünftige Herausforderungen in Städten zu lösen. Für ihre Blog-Kunden berichtet sie über Trends & Innovationen aus den unterschiedlichsten Bereichen zeitgenössischer Alltagskultur.
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